All diese Tugenden übte er tatsächlich aus – wann immer er daran dachte. Aber er hatte eine Schwäche und das war die Unachtsamkeit. Diese Neigung war nicht stark in ihm und er meinte, dass sie wenn sie gegen all das Gute was er tat aufwög, nur als kleinen Fehler gelten könne.
Es gab da ein paar arme Leute denen er nicht half weil er bisweilen unempfindlich war für ihre Nöte. Auch die Liebe und das Dienen wurden manchmal vergessen, wenn das was er als rechtmäßig persönliche Ansprüche oder doch zumindest als berechtigte Wünsche ansah, in ihm an die Oberfläche drang und Oberhand gewann in seinen Entscheidungen und in dem was er tat.
Er liebte den Schlaf. Manchmal wenn er schlief, gingen Gelegenheiten ungenutzt vorüber, bei denen er Erkenntnis suchen, Einsicht gewinnen, Demut üben oder die Summe seines guten Betragens noch um ein Gutes hätte vergrößern können. Diese Gelegenheiten kamen nicht wieder.
Genauso wie die guten Eigenschaften ihre Spuren in seinem Wesen hinterließen, so auch die Eigenschaft der Unachtsamkeit.
Und dann starb er. Wie er sich nun jenseits dieses Lebens wiederfand und auf den Weg zu den Toren des „Ummauerten Gartens“ begab, hielt er inne und fragte sein Gewissen. Er fand das er ausreichend Aussicht habe, durch die „Hohen Tore“ eintreten zu dürfen.
Er sah, dass die Pforten geschlossen waren und so wandte sich eine Stimme an ihn und sagte: „Sei achtsam! Denn die Pforten werden alle hundert Jahre nur einmal geöffnet.“
Er ließ sich nieder und wartete voller Spannung. Aber ohne die Möglichkeit, seine Tugenden gegenüber den Menschen auszuüben fand er, war die bloße Achtsamkeit für einen Mann wie ihn doch zu wenig. Nachdem er eine Zeit, die ihm so lange wurde als sei es ein Jahrhundert gewartet hatte, wurde er schläfrig. Für einen einzigen Augenblick schlossen sich seine Augenlider. Und in diesem unendlich winzigen Augenblick taten die Pforten sich weit auf.
Noch ehe er die Augen wieder ganz geöffnet hatte, schlossen sich die Tore schon wieder unter donnerndem Getöse, laut genug Tote zu erwecken.
Dies ist eine besonders beliebte Lehrgeschichte der Derwische. Manchmal taucht sie unter dem Titel „Das Gleichnis von der Unachtsamkeit“ auf. Auch als Volkserzählung ist sie gut bekannt, aber ihr Ursprung ist vergessen. Einige haben sie Hazirat Ali zugeschrieben, dem Vierten Kalifen. Andere sagen, sie sei so bedeutend, dass sie sich auf geheimnissvolle Weise vom Propheten selber herleite. Allerdings steht fest, dass sie sich in keiner der bezeugten „Traditionen des Propheten“ finden.
Die dichterische Form, in der sie hier wiedergegeben ist, stammt aus den Werken Amil Babas, eines kaum bekannten Derwisches des 17. Jahrhunderts, in dessen Schriften behauptet wird, dass der „wahre Autor derjenige sei, dessen Werk anonym ist. denn auf diese Weise steht niemand zwischen dem Lernenden und dem was gelernt werden soll.“